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Carbon gegen Muskeln
Der zweite große internationale Auftritt von Oscar Pistorius bei den Olympischen Spielen in London nach der Leichtathletik-WM in Daegu 2011 wirft viele Fragen auf.
Wer sich mit Oscar Pistorius beschäftigt, durchläuft einen Prozess. Zuerst steht die Bewunderung. Der 400-Meter-Läufer mit den Prothesen ist zu einer Identifikationsfigur für Menschen mit und ohne Behinderung geworden. Er hat sich in einer Welt durchgesetzt, in der wie nirgends sonst die Leistung zählt. Eine Welt, in der Behinderung bislang ein Ausschlusskriterium war. Pistorius hat das Gegenteil bewiesen. Dafür wird er bewundert und bejubelt. Er ist Hoffnung und Bestätigung gleichermaßen. Ein Star. Populär. Perfekt vermarktet. Das ist die eine Seite der Medaille. Die sympathische. Die populäre. Die einfache.

Die andere Seite ist weniger sympathisch. Weniger populär. Weniger einfach. Es taucht die Frage auf, ob noch vergleichbar ist, was da auf der Tartanbahn passiert? Ist es fair, einen Läufer mit Carbonfedern anstelle von Muskeln antreten zu lassen?

Technische Hilfsmittel in Form von Federn oder Rollen sind in der Leichtathletik verboten – wenn sie einen Vorteil bringen. Früher war klar: Eine Prothese ist ein Nachteil. Wer mit Krücken an den Start ging, hatte keine Chance. Der technische Fortschritt hat diese Regel umgekehrt. Jetzt wird diskutiert, ob eine Prothese ein unerlaubter Vorteil ist. Der Kölner Biomechaniker Gert-Peter Brüggemann urteilte, dass Pistorius’ Carbon-Konstruktionen einen geringeren Energieverlust als der menschliche Fuß haben. Er ermüde weniger schnell und habe einen geringeren Sauerstoffverbrauch. Läufer ohne Prothese wären also im Nachteil. (Studienergebnis der DSHS Köln)

Erst ein von Pistorius in Auftrag gegebenes weiteres Gutachten aus den USA überzeugte den internationalen Sportgerichtshof davon, dass Pistorius keinen Vorteil habe. Ein langsamerer Start, eine windanfällige Balance und Rutschgefahr bei Regen glichen die positiven Aspekte aus.

Die grundsätzlichen Fragen allerdings blieben unbeantwortet. Pistorius wurde als Einzelfall betrachtet. Entscheiden die Funktionäre weiterhin von Fall zu Fall, werden sich noch viele Gutachter damit beschäftigen, welche Vor- und Nachteile diese und jene Prothese bringt. Es wird um Kurvenlage gehen, um Federkraft und um Rutschfestigkeit. Die Technik wird immer besser werden, ein Urteil immer schwieriger. Denn wo ist der Punkt erreicht, an dem Carbon die Muskulatur überholt?

Klar ist nur, dass die Formel „Talent + Training = Leistung“ um die Komponente „Technik“ erweitert wurde. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere zeigt einen Sportler, der mehr für das Selbstbewusstsein und die Integration Behinderter getan hat, als es Regeln und Gesetze je könnten.

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The secret of success behind Oscar Pistorius
Foto: SIP