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Endeshaw Negesse bei seinem Sieg in Tokio im Februar. Schafft er auch in Chicago eine derartige Überraschung?
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Ohne Hasen auf der Jagd nach einem spannenden Rennen
Der Chicago Marathon verzichtet heuer erstmals auf die Verpflichtung von Pacemakern und setzt damit ein deutliches Zeichen. Doch das schreckt die Elite nicht ab, die in hochkarätiger Zusammensetzung zum US-Traditionsrennen strömt. Die Frage nach dem Sieger bei den Herren ist eine sehr offene.
„Das Rennen, nicht die Zeit, ist das, was zählt!“ Mit diesem eindeutigen Statement begründete Renndirektorin Casey Pinkowski vor wenigen Monaten die Entscheidung, heuer erstmals auf Pacemaker zu verzichten. Damit folgt der Chicago Marathon dem Weg seiner US-amerikanischen Brüder in Boston und New York und verzichtet als dritter der sechs zur World Marathon Majors zählendenden Big Player auf die Unterstützung von Athleten, die mit ihrer Arbeit auf den ersten 25 bis 30 Kilometern für eine schnelle Endzeit sorgen sollen.

Ende der Weltrekordjagd
Diese Entscheidung darf durchaus als Umdenken beim Marathon-Giganten in „Windy City“ gewertet werden, der heuer zum 39. Mal ausgetragen wird und im vergangenen Jahr bei der Rekordauflage die beeindruckende Anzahl von 40.659 Finishern erzielte. Denn jahrelang hat sich der Chicago Marathon sowohl bei den Damen als auch bei den Herren darum bemüht, den Weltrekord zurück in die USA zu holen. Zuletzt sind der später eingebürgerte Marokkaner Khalid Khannouchi (1999) bei den Herren und Paula Radcliffe (2002) bei den Damen auf dieser Strecke, die bei optimalen Bedingungen zu den schnellsten der Welt zählt, einen Weltrekord gelaufen. Die aktuellen Streckenrekorde von Dennis Kimetto (2:03:45 Stunden, 2013) und Paula Radcliffe (2:17:18 Stunden, 2002) können sich nicht nur sehen lassen, sondern sind in der allerersten Reihe des internationalen Marathonsports anzusiedeln. Dass derartige Zeiten in Zukunft ohne die Unterstützung von hochkarätigen Pacemakern im Bereich des Möglichen liegen, ist auszuschließen.

Ein Entschluss für das Rennen
Die Entscheidung ist vielmehr eine für das Rennen, denn Marathons mit „Hasen“, die eine Rekordmarke verfolgen, haben ein großes Problem: Sie sind häufig Ausscheidungsrennen, die viel zu früh entschieden sind und es im Finale keine direkten Duelle gibt. Also für Zuschauer eintönig, langweilig und unattraktiv. Dies soll heuer in Chicago ganz anders sein. „Wir haben es immer versucht, die Pace und den Wettbewerb zu vereinen. Aber wenn das Tempo zu hoch ist, hast du keinen Wettbewerb. Ohne Pacemaker müssen die Athleten viel konzentrierter ans Werk gehen und sich Gedanken über Taktik und Strategie machen. Das ganze Rennen ist nun ein Kampf gegen die Gegner. Nun sind die Stars im Fokus, nicht die Pacemaker“, erklärt Pinkowski, seit 25 Jahren die einzige weibliche Renndirektorin bei den World Marathon Majors. Auch wenn der Wettbewerb zählt und nicht so sehr die Zeit, dass am Sonntag eine anständige Siegerleistung herauskommt, steht für Pinkowski außer Frage: „Großer Wettbewerb produziert große Leistungen! Außerdem sind die Leute immer schon nach Chicago gekommen, um schnell zu laufen.“

Ein Entschluss gegen Betrug durch Doping
Vielleicht ist die Entscheidung, auf Pacemaker zu verzichten, auch eine positive Entwicklung gegen das Doping-Problem im Laufsport. In den letzten Jahren stand insbesondere dank der Marathons in Berlin, London und Chicago die Jagd nach dem Allergrößten und der Wunsch eines Sprung in neue Dimensionen mehrfach jährlich im Fokus. Und dieses Streben nach dem Fortschritt wurde von der öffentlichen Wahrnehmung dramatisiert und aufgepauscht. Ohne Pacemaker wird es keine Weltrekorde geben, außer es kommt im Rennen zu äußerst außergewöhnlichen Konstellationen mehrerer Allianzen. Mit dem Verzicht auf Pacemaker nimmt der Veranstalter damit auch den Läufern den Druck, Historisches leisten zu müssen und gibt ihnen die Möglichkeit, auf für Rekordjagden notwendige legale und illegalle Maßnahmen zu verzichten. Das gesunde Rennen, der Kampf Läufer gegen Läufer und die Marathon-Taktik sollen in Zukunft beim Chicago Marathon florieren und das Doping-Problem, mit dem der Chicago Marathon aufgrund der Fälle von Liliya Shobukhova und Rita Jeptoo so schwer getroffen wurde wie kein zweiter, in den Hintergrund rücken. Alles im Sinne der Attraktivität für die Zuschauer, denn Rennen, die die Zuschauer sowohl an der Strecke als auch am Fernseher am ehesten fesseln, sind jene mit sportlichem Wettbewerb und Überraschungsmomenten.

Breites Favoritenfeld
Man kann viel philosophieren über einen der World Marathon Majors, der auf Pacemaker verzichtet. Aber eines ist sicher: Auch wenn der ganz, ganz große Name fehlt, die Eliteläufer haben sich nicht davon abschrecken lassen und machen den Chicago Marathon auch heuer zu einem der höchst attraktiven. Das Spannendste dabei: Bei den Herren stehen gleich drei Läufer am Start, die eine Bestleistung unter 2:05 Stunden aufweisen und fünf weitere, die bereits unter 2:07 Stunden oder knapp darüber gelaufen ist. Dabei gibt es allerdings keinen erklärten Favoriten, sondern mehrere Protagonisten, die für den Sieg in Frage kommen.

Neuauflage des Duells um den zweiten Platz

Auf der Liste der Favoriten ganz oben stehen zwei kenianische Läufer, die bereits im vergangenen Jahr in Chicago für Furore gesorgt haben und für eine große Show geboten hätten, wäre da nicht der überragende Eliud Kipchoge gewesen, der die beiden übertraf. So duellierten sich Sammy Kitwara und Dickson Chumba um Rang zwei, beide erzielten persönliche Bestleistungen in 2:04:28 Stunden bzw. 2:04:32 Stunden und feierten die größten Rennen ihres Lebens. Angesichts dieser Vorgeschichte wollen beide heuer um den Sieg laufen, ganz nach dem Motto: selber Gegner, bessere Voraussetzungen.

An Angriffsparolen fehlt es keinem der beiden. „Ich komme heuer hierher, um das Rennen meines Lebens zu bestreiten“, so Chicago-Spezialist Kitwara, der beim London Marathon im Frühjahr den sechsten Platz erzielte. Gelingt es ihm seine Chicago-Serie fortzusetzen, ist er der prognostizierte Sieger. Denn 2012 belegte er Rang vier, 2013 Rang drei, im Vorjahr Rang zwei, manchmal lockt die Statistik zu hellseherischen Spielchen. Kitwara könnte mit der Taktik ins Rennen gehen, von Beginn an für hohes Tempo zu sorgen, schließlich ist er der fünftschnellste Halbmarathonläufer aller Zeiten. Ob er den Mut dafür hat oder eine bessere taktische Variante entdeckt, wird man sehen. Chumba hat im Vergleich der beiden gleichaltrigen Kenianer einen Vorteil gegenüber seinem Landsmann: Im Gegensatz zu Kitwara hat er bereits große Siege bei Marathons gefeiert, 2014 in Tokio, 2012 in Eindhoven und 2011 in Rom. Der Chicago Marathon wird sein zwölfter internationaler Auftritt, nie war Chumba schlechter platziert als auf Rang acht in Amsterdam 2013. Heuer lief er in Tokio und schaffte den Sprung aufs Podest.

Gegner im Blick, Kipchoge im Sinn
Die Garde der schnellen Äthiopier wird in Chicago von Endeshaw Negesse angeführt. Der 27-Jährige verfügt über eine Bestleistung von 2:04:52 Stunden, welche er in Dubai 2013 gelaufen ist, und möchte gemeinsam mit seinen Landsleuten in Chicago die Serie äthiopischer Schwäche beenden. Nicht nur der kenianische Dreifachsieg aus dem Vorjahr liegt den äthiopischen Marathonläufern quer im Magen, in der ewig langen Geschichte des Chicago Marathon gab es – man glaubt es kaum – erst einen einzigen äthiopischen Sieg bei den Herren, während die Kenianer in den vergangenen zwölf Jahren elfmal triumphierten. Negesse könnte bei seinem siebten großen Marathon eine ähnliche Herangehensweise wählen wie heuer in Tokio. Als Außenseiter gestartet besiegte er in einem spannenden Finale Olympiasieger Stephen Kiprotich und Dickson Chumba und siegte in einer Zeit von 2:06:00 Stunden – sein größter Erfolg. Aus diesem Grund spielt der reine Marathonläufer auch in der World Marathon Majors Serie eine große Rolle, denn in Chicago könnte er sein Punktekonto aufstocken. Eliud Kipchoge hat durch seinen Berlin-Sieg vorgelegt und hält bei 50 Punkten, gewinnt Negesse in Chicago, zieht er gleich. Die Entscheidung in der lukrativen WMM-Serie fällt allerdings erstmals erst nach dem Tokio Marathon im Februar, wo der Äthiopier als Titelverteidiger wohl starten wird, weswegen jede Platzierung unter den besten Fünf in Chicago für Negesse sehr wertvoll sein könnte.

Kebede verletzt
Der große Abwesende beim Chicago Marathon ist jener Äthiopier, der 2012 für den einzigen Sieg seiner Nation bei diesem Event gesorgt hat: Tsegay Kebede. Nach einigen mäßigen Auftritten in letzter Zeit wollte der zweifache London-Sieger und ehemalige WMM-Gesamtsieger in Chicago sein großes Comeback geben, nun ist ihm eine Verletzung dazwischen gekommen, die einen Antritt in Chicago unmöglich macht. Dafür haben die Äthiopier mit Tilahun Regassa, der letzten Herbst den Eindhoven Marathon gewann, im Jahr davor den Rotterdam Marathon und heuer in London starker Fünfter war, und Abera Kuma, der heuer den Rotterdam Marathon gewann und im Vorjahr in Berlin Dritter war, noch zwei weitere ganz heiße Eisen im Feuer. Die Kenianer Wesley Korir, der in den USA lebt, 2012 den Boston Marathon gewann und bei bereits sechs (!) Starts in Chicago einmal Fünfter war, nämlich 2012, der in Japan lebende Sammy Ndungu und Hamburg-Sieger Lucas Rotich komplettieren die Spitze des starken Elitefelds der Herren. Rotich hat als einziger der Chicago-Starter neben Kitwara eine Halbmarathon-Bestleistung von unter einer Stunde aufzuweisen. Der Chicago Marathon wird in diesem Jahr sowohl von den starken US-Amerikanern, aufgrund der bereits in vier Monaten stattfindenden Olympia-Trials, als auch von namhaften europäischen Läufern links liegen gelassen.

Chicago Marathon
Text: SIP / TK
Foto: Tokio Marathon / Yamaguchi Agence Shot