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Drei Damen, drei massive Bestleistungen und zwei Überraschungsfinalistinnen, die die selbe Halbfinalzeit ablieferten: Shelayna Oskan-Clarke (r.) und Renelle Lamote (mitte).
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Eine Flut von Bestleistungen und Heldentaten im 800m-Halbfinale
Nicht zu glauben, aber wahr: Für ein Finalticket im 800m-Lauf der Damen muss man unter 1:58,50 Minuten laufen! Zwischen sensationellen und schier unwirklichen Leistungen, Landesrekorden und schockierenden Bestleistungen müssen Selina Büchel und Fabienne Kohlmann trotz beachtlicher Leistungen ausscheiden. Auch die Topfavoritin ist nun gewarnt.
Staunen legte sich über das gut besetzte Olympiastadion von Peking und das Gefühl der Fassungslosigkeit holte die Schweizerin Selina Büchel ein. Was hier in den Halbfinalläufen der Weltmeisterschaften 2015 alles binnen weniger Minuten passierte, würde im Detailbericht mehrere Seiten füllen und dürfte nicht nur für die Schweizerin unfassbar sein. Eine Zeit von 1:58,63 Minuten, die zweitschnellste Zeit ihrer Laufbahn, reichte nicht für eine Finalteilnahme!

Volle Kraft voraus!
Um die Chance der Zeitregel mitzunehmen, hatte Selina Büchel ein Offensiv-Feuerwerk im ersten von drei Halbfinalläufen als taktische Maßnahme gewählt. 58,69 Minuten bei Halbzeit, doch die 24-Jährige hielt das Tempo auch in der zweiten Runde aufrecht und hätte einen grandiosen Start- und Zielsieg gefeiert, wäre das Rennen nach 780 Metern zu Ende gewesen. Im letzten Moment schoben sich zur Überraschung aller die Marokkanerin Rababe Arafi und die Ukrainerin Natalia Lupu an Büchel vorbei. Die amtierende Afrikameisterin lief in einer Zeit von 1:58,55 Minuten erstmals unter zwei Minuten! Dennoch: Wer zu diesem Zeitpunkt glaubte, Büchel würde im Finallauf am Samstagabend chinesischer Zeit zuschauen müssen, war wohl ein grenzenloser Pessimist, der aber gnadenlos Recht behalten sollte. Die junge Schweizerin selbst teilte jedoch die Befürchtungen im TV-Interview mit dem Schweizer Fernsehen: „Der schlimmste Moment war, als ich realisierte, dass ich nur als Dritte über die Ziellinie lief. Dass im letzten Rennen zwei Läuferinnen schneller sein würden, habe ich erwartet.“

Damit versandeten auch die leisen Hoffnungen des Schweizer Leichtathletik-Verbandes, acht Jahre nach der Bronzemedaille von Marathon-Läufer Viktor Röthlin und 14 Jahre nach dem überraschenden 800m-WM-Titel von André Bucher bei Weltmeisterschaften im Laufbereich wieder auf das Podest zu kommen. Als einzige Schweizer Leichtathletin überhaupt hat Anita Weyermann 1997 in Athen eine WM-Medaille über 1.500m gewonnen, damals in Bronze. „Das ist bitter. Ich habe alles versucht, aber die anderen waren besser heute. Die zahlreichen Saisonbestleistungen und persönliche Bestzeiten unterstreichen, wie hoch das Niveau hier ist“, fasste die enttäuschte Selina Büchel zusammen.

Sensationen in Serie

Wunder passieren selten, aber in diesen wenigen Minuten der drei Halbfinalläufe über 800 Meter waren etliche kleine Wunderleistungen dabei. Denn Arafis Quantensprung war längst nicht die einzige überwältigende Steigerung. Die 25-jährige Britin Shelayna Oskan-Clarke, von der bis dato keiner ein Stück Brot genommen hatte, gewann den zweiten Vorlauf in einer Zeit von 1:58,86 Minuten und knackte dabei auch erstmals die Zwei-Minuten-Marke. Renelle Lamote, die für das entsprechende Tempo gesorgt hatte, wurde zeitgleich Zweite und auch die drittplatzierte Ukrainerin, die bisher international noch nie aufgefallen war, verbesserte ihre persönliche Bestleistung um rund eine Sekunde, um unter 1:59 Minuten zu bleiben. Eine furiose persönliche Bestzeit der Kanadierin Fiona Benson auf Rang fünf geriet zur absoluten Randnotiz.

Und weiter ging’s im Text, denn der dritte Halbfinallauf setzte dem Gesamten die Krone auf. Mit Lynsey Sharp im Rücken war Eunice Sum förmlich vom Start weggesprintet, erst nach 200 Metern fand das verdutzte Feld den Anschluss. 57,31 Minuten, eine Durchgangszeit wie ein Gedicht und die Weltmeisterin von Moskau ging nicht vom Gaspedal herunter. Normalerweise hätte die beste 800m-Läuferin der Jetzt-Zeit das Feld mit ihrem Höllentempo zerstört, aber normal war an diesem denkwürdigen Tag im „Vogelnest“ nichts. Melissa Bishop, durch ihren Sieg bei den Pan American Games vor wenigen Wochen erst auf dem internationalen Radar aufgetaucht, stürmte zu einer Spitzenzeit von 1:57,52 Minuten. Damit löschte sie den 14 Jahre alten kanadischen Landesrekord von Diane Cummins mit der Differenz einer knappen Sekunde. Ihre vorherige persönliche Bestleistung pulverisierte die 27-Jährige um exakt zwei Sekunden! „Ich bin sehr aufgeregt“, jubelte sie anschließend in die Mikrophone. Auch Europameisterin Marina Arzamasova steigerte ihre persönliche Bestleistung um rund sechs Zehntelsekunden und wurde Zweite. Angesichts dieser Klasse hatte Sifan Hassan, Bronzemedaillengewinnerin über 1.500m, keine Chance ins Finale aufzusteigen, obwohl sie ihren „Hausrekord“ um rund eine Sekunde auf eine Klassezeit von 1:58,50 Minuten steigerte.

Erste Saisonniederlage für Sum
Unfassbar, aber wahr: Eunice Sum, die Dominatorin und Titelverteidigerin, musste über die Zeitregel ins Finale gehen, obwohl sie die viertschnellste Zeit des Jahres auf die Bahn brachte. Die furiosen Bishop und Arzamasova hatten ihr die erste Niederlage seit knapp einem Jahr zugefügt. Keine Frage, dieser Lauf war eine Warnung für die Kenianerin. Jolanda Jozwick sicherte sich in persönlicher Bestleistung von 1:58,35 Minuten das letzte verfügbare Finalticket. Und Vize-Europameisterin Lynsey Sharp? Die Britin wurde in einer feinen Zeit von 1:59,33 Minuten Letzte im dritten Vorlauf!

Keine Chance für die Deutschen
So hatten die beiden deutschen Läuferinnen Fabienne Kohlmann und Christina Hering keine Chance, auf das Finale zu hoffen. Und das, obwohl beide keineswegs enttäuschten, sie konnten bloß nicht mit dem Strom der satten Verbesserungen schwimmen und lieferten im Vergleich zu ihren Vorwerten normale Leistungen ab. Die deutsche Meisterin Kohlmann lief im ersten Vorlauf eine Zeit von 1:59,42 Minuten, am Ende Rang 15, Hering im zweiten Lauf eine Zeit von 2:00,81 Minuten, am Ende Rang 23 – beides tolle Auftritte. „Ich wusste, dass man fürs Finale deutlich unter zwei Minuten laufen muss und dass es ein schneller Lauf werden würde. Beim Saison-Höhepunkt im Halbfinale rauszufliegen ist wie das I ohne Tüpfelchen“, kommentierte Kohlmann, heuer Dritte bei der Universiade, emotionslos. Ihre Landsfrau war deutlich zufriedener: „Ich bin noch nie zweimal hintereinander so schnell auf Anschlag gelaufen. Ich fahre mit Stolz nach Hause und habe Motivation für die nächsten Jahre getankt.“

Semenya und Amerikanerinnen abgeschlagen
Letzte wurde die völlig überforderte Ex-Weltmeisterin Caster Semenya in einer Zeit von 2:03,18 Minuten, die sich in Peking aber insgesamt deutlich verbessert präsentierte als zuletzt. Erneut abgewatscht wurden die US-Amerikanerinnen Brenda Martinez und Molly Ludlow, die ebenso chancenlos waren wie die erfahrene Britin Jennifer Meadows und die bis dato zweitschnellste Läuferin des Jahres, Mary Rose Almanza aus Kuba. Sie alle gehörten zum kleinen Kreis von sieben Läuferinnen aus 24, die im Halbfinale eine Laufzeit mit einer „2“ vorne anboten.

IAAF Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2015 in Peking
Text: SIP / TK
Foto: Getty Images for IAAF