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Emily Infeld musste erst von ihrer erfahrenen Teamkollegin Shalane Flanagan zum Feiern aufgefordert werden.
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Zu früh gefreut – die Geschichte eines herzergreifenden Dramas
Diesen Moment wird Molly Huddle wohl nie wieder vergessen. Sie jubelte zu früh und verlor dadurch eine sichere Bronzemedaille, die den Höhepunkt ihrer Karriere dargestellt hätte. Während Huddle zum Heulen zu Mute war, fühlt ihre profitierende Teamkollegin Mitgefühl.
Es ist die wichtigste Regel im Laufsport: Laufe über die Ziellinie! Molly Huddle hat das getan, im Finale über 10.000 Meter der Damen im Rahmen der Weltmeisterschaften 2015 in Peking – jenem Rennen, das den bisherigen Höhepunkt in der Karriere der 30-Jährigen US-Amerikanerin darstellen hätte sollen. Vor zwei Jahren war sie bei den Weltmeisterschaften von Moskau Sechste im 5.000m-Lauf, das Rennen über 25 Runden in Peking sollte ob ihrer guten Verfassung eine Steigerung bringen. Huddle lief ein tolles Rennen, engagiert, mit Übersicht und mit Klasse. Und sie lief auch über die Linie, allerdings nicht, ohne vorher über ihre vermeintliche Bronzemedaille zu jubeln – ein verfrühter Jubel, der zu einer Peinlichkeit und zu einem unbeschreiblichen Gefühlchaos im Inneren des Unglücksraben führte.

Einmalige Gelegenheit vermasselt
Es ist müßig darüber zu diskutieren, ob es jetzt besser sei, dass eine Teamkollegin diesen Faux-Pas ausnützen konnte oder es besser gewesen wäre, es wäre eine Athletin gewesen, mit der Huddle nicht gemeinsam im Teamhotel zu Abendessen musste. Unter dem Strich bleibt die Medaille im Team, doch hinter der gewahrten Freundlichkeit dürfte Huddle das ziemlich egal sein. An ihrer unmittelbaren Reaktion war zu erkennen, wie hart ein Fall aus den Wolken ist und wie sehr er schmerzt. Man muss der 30-Jährigen hoch anrechnen, dass sie nicht mit Scheuklappen an den Augen und gesenkten Kopf fluchtartig das Stadion verließ, sondern in dieser schweren Stunde zu den bitteren Ereignissen stand. „Ich hab es verschissen!“, gab Huddle mit einem Blick ins Leere bekannt. „Es ist frustrierend. Es gibt selten solche Rennen, die so gut für mich laufen. Wahrscheinlich bekomme ich nie wieder eine Chance auf eine Medaille.“ Man möchte sie aufmuntern, doch die Einschätzung ist wohl eher realistisch als pessimistisch.

„Ich fühle mich schuldig“
Eine Sekunde zu früh wollte Huddle mit dem Feiern beginnen, am Ende gab es für sie keinen Anlass mehr. 0,09 Sekunden machten den Unterschied zu Gunsten Emily Infelds, die innen durchhuschte und wie die Jungfrau zum Kind zu dieser WM-Medaille kam. Die 25-Jährige hätte sich wohl nie ausgemalt, in diese Situation zu kommen. Sie war krasse Außenseiterin. Lobenswert auch ihre Reaktion nach dem Rennen, als das Resultat an der Anzeigetafel Huddle wie ein Nackenschlag traf und für kollektive Gewissheit sorgte. Infeld hielt die Freude aus Solidarität gegenüber ihrer Teamkollegin, die sichtlich mit den Tränen kämpfte, äußerlich im Zaum. „Ich fühle mich ein bisschen schuldig, ich fühle mit Molly mit. Ich denke, sie hat nicht realisiert, wie knapp ich hinter ihr war. Ich lief einfach über die Linie und hab erst dann realisiert, was passiert ist“, erzählte Infeld später. Erst die dritte US-Amerikanerin Shalane Flanagan ermunterte Infeld Sekunden später zu einer Ehrenrunde. Die erfahrene US-Amerikanerin weiß schließlich seit den Olympischen Spielen, wie eine Bronzemedaille im „Vogelnest“ zu Peking gebührend zu feiern ist. Bei all dem Mitgefühl, berechtigte Freude, wenn eine Außenseiterin einen derartigen Erfolg feiert. „Ich habe alles aus mir herausgeholt. Ich habe mich auch in der letzten Runde sehr gut gefühlt. Ich bin einfach durchgelaufen bis zum Ende“, bilanzierte die Sensations-Dritte nach dem Rennen.

Internationales Mitgefühl
Sport lebt von Dramen. Und dieses Ereignis ist ein Paradebeispiel von Drama. Deswegen rief dieses spektakuläre Ereignis auch umfangreiche Reaktionen in sozialen Netzwerk hervor. „Wow! Drama und Emotion. Was für ein Finish für Emily Infield, zugleich eine Höllenqual für Molly Huddle“, twitterte Paula Radcliffe und brachte die Sachlage auf den Punkt. „Mein Herz ist gebrochen für Molly Huddle“, ergänzte die ehemalige US-amerikanische Meisterin im 3.000m-Hindernislauf, Nicole Bush. Die ehemalige irische Hallen-EM-Medaillengewinnerin Rosin McGettigan munterte die Amerikanerin via Twitter auf: „Ein herzzerreißender Moment für meine Freundin Molly Huddle. Ein Missgeschick im letzten Schritt kostete ihr eine WM-Medaille. Kopf hoch, Rio kommt bald!“

Huddle ist nicht die erste Sportlerin, die sich durch einen verfrühten Jubel die Butter noch vom Brot nehmen ließ. Zuletzt passierte das dem algerischen Olympiasieger Taoufik Makhloufi 2014 im Kampf um den Sieg beim 800m-Lauf im Rahmen des Diamond League Meetings in Shanghai gegen den Kenianer Robert Biwott.

IAAF Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2015 in Peking
Text: SIP / TK
Foto: Getty Images for IAAF