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Genzebe Dibaba bei ihrem Auftritt über 5.000m im Rahmen des Diamond League Meetings in Oslo.
NEWS
Genzebe Dibaba auf den Spuren ihrer erfolgreichen Schwestern
Genzebe Dibaba will bei den Weltmeisterschaften 2015 Geschichte schreiben. Etappe Nummer eins ist das Finale über 1.500m, in das sie als Hauptanwärterin auf den Sieg geht. Obwohl das Teilnehmerfeld enorm stark und die Konkurrenz hoch motiviert ist, will die Äthiopierin ein weiteres Kapitel im höchst erfolgreichen Werk der sportlichen Heldentaten der Dibaba-Dynastie verfassen.
Bewerb: 1.500m-Lauf der Damen
Startzeit: Dienstag, 25. August um 20:35 Uhr chinesischer Zeit / 14:35 Uhr MEZ
Titelverteidigerin: Abeba Aregawi (Schweden)
Olympiasiegerin 2012: Gemze Bulut (Türkei)*
Europameisterin 2014: Sifan Hassan (Niederlande)
WM-Rekord: Tatyana Tomashova (Russland), 3:58,52 Minuten (Paris 2003)

* nach der erst kürzlich erfolgten Disqualifikation ihrer Landsfrau Asli Cakir Alptekin

Dass ihr ein außergewöhnliches Talent in die Wiege gelegt wurde, ist längst ein offenes Geheimnis. Spätestens als die kleine Genzebe zu Hause in Bekoji, einer kleinen Stadt im äthiopischen Hochland, die Olympischen Spiele 2004 am Fernseher verfolgte, dürfte dies auch der damals 13-Jährigen bewusst gewesen sein. Denn ihre Schwestern Ejageyehu und Tirunesh gewannen an der Wiege der Olympischen Geschichte jeweils eine Medaille im Langstreckenlauf. Besonders Tirunesh startete in der Folge eine sportliche Karriere, die ihresgleichen sucht und aktuell nach einer Reihe von bedeutenden Titeln aufgrund einer Babypause unterbrochen ist. Nun ist die kleine Schwester Genzebe an der Reihe, die Brötchen zu verdienen und – was in der Familie Dibaba noch wichtiger ist – auf die Jagd nach Titeln zu gehen.

Von der Indoor-Queen zur Weltrekordläuferin
Zu Anfang ihrer Karriere war Genzebe Dibaba eine echte Spezialistin für Hallen-Wettkämpfe. 2012 und 2014 holte sie jeweils WM-Gold unter dem Hallendach, in den letzten beiden Jahren brach sie insgesamt vier Indoor-Weltrekorde und verdiente sich mit diesen sportlichen Meriten die Auszeichnung der Laureus Sportlerin des Jahres 2014 – eine gigantische Ehre. „Heuer wollte ich etwas intensiver auf die Outdoor-Saison hin trainieren und den Fokus etwas von der Hallen-Saison nehmen. Ich hatte immer einen natürlichen Speed, an dem ich nicht weiter feilen musste. Was mir bisher gefehlt hat, war die Stärke im Ausdauerbereich. Daran habe ich hart gearbeitet und ich kann jetzt im Freien viel schneller laufen als früher.“ Als ein weiteres Plus sieht es Dibaba an, dass sie seit frühester Jugend gemeinsam mit Jungs und jetzt mit Männern trainiert hat, was ihrem Training einen besondern Anreiz verlieh.

Den vorläufigen Höhepunkt ihrer Karriere erreichte Genzebe Dibaba am 17. Juli 2015. Mit Hilfe der Pacemakerin Chanelle Price, immerhin amtierende Hallen-Weltmeisterin über 800m, torpedierte sie in Monaco ihre Bestleistung über 1.500m um satte vier Sekunden und brach einen Uralt-Weltrekord aus der Zeit der chinesischen Wunderleistungen. 3:50,07 Minuten lautet die neue, beinahe unwirkliche Marke. „Seit ich mit dem Laufen begonnen habe, habe ich von einem großen Weltrekord geträumt. Jener über 1.500m war ein hartes Stück Arbeit, ich bin sehr stolz auf mich und kann es fast nicht glauben, es geschafft zu haben. Nun will ich alle, jenen über 800 Meter und jenen über 5.000m“, ist die ambitionierte 24-Jährige längst noch nicht mit ihrem Latein am Ende.

Große Titel fehlen noch
Viele starke Athletinnen und großen Namen haben sich für das WM-Finale über 1500m qualifiziert, in das Dibaba, die sich erst nach ihrem Weltrekord für einen Start über diese Distanz entschieden hat, als haushohe Favoritin geht. Man muss die Fakten richtig einordnen: Die Äthiopierin, die aufgrund der Regenzeit in ihrer Heimat die WM-Vorbereitung in Barcelona absolvierte, hat eine um sechs (!) Sekunden bessere Bestleistung aufzuweisen, als die nächstbeste im Feld, Sifan Hassan. Eine größere Favoritenstellung kann es kaum geben. Doch Dibaba weiß um ihre Schuldigkeit bei Großereignissen, schließlich flog sie bei Olympia in London im Halbfinale raus und belegte bei der WM in Moskau Rang acht, genauso wie sie über die hohe Erwartungshaltung Bescheid weiß: Außer WM-Gold kommt nichts in Frage.

Das vielleicht attraktivste Element des Sports ist aber seine Unberechenbarkeit. Vielleicht ist es der Mut der Verzweiflung, vielleicht ist auch ein Minimum an Berechtigung dabei. Die Konkurrenz hat die fehlenden Erfolge bei Großereignissen im Freien und den dadurch entstandenen Druck auf ihren Schultern als Schwäche Dibabas ausgemacht. In ihrer Verzweiflung organisierte Sifan Hassan in der Vorbereitung in den Niederlanden 1.500m-Rennen mit Männern und ließ zu Übungszwecken mehrmals eine 3:53er-Pace anlaufen. Schneller als ihre Bestleistung von 3:56,05 Minuten soll sie dabei niemals gewesen sein, aber Erfahrungswerte sind Erfahrungswerte.

Wahrscheinlich ist Sifan Hassan die einzige, die Genzebe Dibaba mit ihren physischen Voraussetzungen gefährlich werden kann – wenn überhaupt. Alle anderen müssen eine taktische Variante als Schlüssel zum Erfolg wählen. So auch die US-Amerikanerinnen Shannon Rowbury und Jennifer Simpson, die sich in den Vorläufen und im Halbfinale, bewusst oder unbewusst, vornehm zurückhielten. Doch Medaillenkandidatinnen sind sie allemal wie auch Titelverteidigerin Abeba Aregawi. Generell ist die Liste der ernsten Bewerbungen für die Siegerehrung ellenlang: Faith Kipyegon aus Kenia, die junge Britin Laura Muir und Junioren-Weltmeisterin Dawit Seyaum aus Äthiopien. Sie alle haben nicht nur Bestzeiten unterhalb der Vier-Minuten-Marke, sondern auch das Potenzial für große Taten. Obwohl in den Vorläufen und Halbfinals Spitzenzeiten ausblieben, ließen vor allem die Afrikanerinnen und Hassan in den Schlussrunden ihre Muskeln spielen. Dibaba mit einer 58er-Schlussrunde, Hassan sogar eine Spur schneller. Die Äthiopierin gewann zweimal unmittelbar vor Kipyegon, dabei entstand der Eindruck, als könnte die 21-jährige WM-Fünfte von Moskau im Ernstfall noch deutlich zulegen. Diese Erkenntnisse schieben die Kenianerin in eine aussichtsreiche Außenseiterrolle vielleicht auch für die ganz große Sensation. Übrigens: Läuft Dibaba auf das Podest, wäre es – man mag es kaum glauben – die erste WM-Medaille für Äthiopien überhaupt im 1.500m-Lauf der Damen, im Falle von Kipyegon wäre es erst die zweite kenianische nach Hellen Obiris Bronzemedaille von Moskau!

Drei Ex-Weltmeisterinnen im Feld
Es ist mehr als bloße Chronistenpflicht, alle zwölf Namen des Teilnehmerfeldes aufzuzählen. Denn angesichts der (neuen) Leistungsdichte auf den Mittelstrecken der Damen, ist es eine zu honorierende Leistung, die Halbfinals erfolgreich überstanden zu haben. Neben den bereits gelisteten Kandidatinnen auf Edelmetall sind mit Malika Akkaoui und Rababe Arafi zwei Marokkanerinnen am Start. Dazu kommen die Polin Angelika Chichocka und der leicht verblasste, russische Altstar Tatyana Tomashova, neben Aregawi und Simpson eine von drei Weltmeisterinnen im Feld. Man möge den folgenden Satz einordnen, wie man möchte: Aber angesichts der bisherigen Leistungen der russischen Nationalmannschaft in Peking ist die Finalteilnahme der 40-Jährigen ein Erfolg. Obwohl viele darauf sicherlich verzichten könnten…

Dibaba vor historischem Double
Wenn sich am Dienstagabend vor hoffentlich berauschender Kulisse im Pekinger Olympiastadion das Teilnehmerfeld in Bewegung setzen wird, sind alle Augen auf Genzebe Dibaba gerichtet. Einen Weltrekord zu erwarten, ist aufgrund fehlender Pacemaker unrealistisch. Eine hochwertige sportliche Leistung sicherlich nicht. Die haushohe Favoritin plant ausgerechnet an jenem Ort, wo Schwester Tirunesh 2008 gleich zwei Olympische Goldmedaillen geholt hat, ein historisches Doppel – Gold über 1.500m und Gold über 5.000m, das hat es bei den Damen in der WM-Geschichte noch nie gegeben. Einzig der US-Amerikanerin Mary Slaney (damals Decker) gelang bei der Premiere in Helsinki 1983 Ähnliches, damals wurde bei den Damen allerdings noch ein 3.000m-Lauf als nächst höhere Distanz nach der „metrischen Meile“ ausgetragen. Noch lebt Dibaba von diesem Traum und von allen Ankündigungen, in wenigen Tagen will sie Peking mit zweimal Gold wieder verlassen. „Jeder erwartet das“, weiß die 24-Jährige Bescheid. Und als ob sie nachdrücklich unterstreichen wollte, wie sie das familiäre Umfeld im sportlichen Sinne geprägt hat, fügte sie an: „Ich muss einfach gewinnen, speziell nach all dem, was meine Schwester erreicht haben. Ich möchte es ihnen gleich tun – oder sogar besser!“

IAAF Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2015 in Peking
Text: SIP / TK
Foto: IAAF / Mark Shearman