Member Area
Benutzer:
Passwort:
Gratis anmelden
Zu Rennbeginn war noch alles in Ordnung: Kompakte Gruppe und die Kenianer mittendrin. Das sollte gut eine Stunde später ganz anders aussehen.
NEWS
Erklärungsversuche eines kollektiven Scheiterns
Der kenianische Verband war redlich bemüht, das stärkste verfügbare Team zu den Weltmeisterschaften nach Peking zu schicken. Bis auf die Absage von Eliud Kipchoge gelang dies. Die Weltrekordläufer Wilson Kipsang und Dennis Kimetto sollten die Scharte von Moskau auswetzen und an die vier kenianischen WM-Titel im Marathon anknüpfen. Doch der Plan ging mächtig in die Hose und Athletics Kenya erlebte das wohl größte Debakel der WM-Geschichte.
Samstag, 22. Juni 2015, kurz nach 10 Uhr morgens im Innenraum des Olympiastadions von Peking. Während der junge Ghirmay Ghebreslassie draußen im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit noch gleich frenetisch wie selbst verblüfft den sensationellen Gewinn der WM-Goldmedaille feierte, schlich Mark Korir mit hängendem Kopf durch die Mixed Zone. Im Wissen, aktiver Augenzeuge der größten kenianischen Niederlage im Marathonsport aller Zeiten gewesen zu sein. Und zu 33,3% Mitauslöser.

Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit
„Die Hitze war fürchterlich. Die Luft war schwer einzuatmen. Ein verdammt hartes Rennen“, keuchte der Sieger des Paris Marathon den Journalisten in die Mikrophone und wischte sich abermals den Schweiß von der Stirn, der in Strömen floss. Nachdem Korir zu Beginn gemäß der kenianischen Taktik das Tempo von der Spitze kontrollierte, quälte er sich anschließend exakt 2 Stunden, 21 Minuten und 19 Sekunden lang, bis die Strapazen ein Ende fanden – bei 28°C Außentemperatur im noch weiter aufgeheizten Olympiastadion. Diese Aussagen erinnerten an den WM-Marathon vor zwei Jahren. Auch damals waren die Kenianer an der Hitze gescheitert. Dieses Mal waren die Bedingungen aber vorhersehbarer als in Moskau, wo die Kenianer immerhin noch unter die Top Ten liefen. Kenianer, die im Gegensatz zu Läufern aus anderen Ländern an der Hitze scheitern? Wer glaubt, kenianische Läufer sind in der Hitze geboren, sitzt einem Irrglauben auf. Denn die in der Höhe gelegenen Regionen, woher die besten kenianischen Langstreckenläufer stammen und wo sie trainieren, herrschen selten derartige Hitzebedingungen. Das ist in anderen Teilen Afrikas sicherlich anders. Aber reicht das als Erklärung für ein derartiges Fiasko? Schließlich mussten alle 68 Teilnehmer gegen die hohen Temperaturen und die hohe Luftfeuchtigkeit ankämpfen.

Kein Schritt weiter bei Kilometer 30
„Ich bin es gewohnt bei kühleren Bedingungen zu laufen. Am liebsten bei Temperaturen rund um 10°C. Knapp 30°C., das war einfach eine Nummer zu groß. Diese Temperatur hat uns zerstört“, erklärt Dennis Kimetto verzweifelt die zweite Marathon-Aufgabe seiner Karriere nach Boston 2014. Der Mann, der erst vor elf Monaten in Berlin bei „idealem“ Laufwetter einen fabelhaften Weltrekord gelaufen war, spielte im WM-Marathon von Peking eine untergeordnete Rolle wie ein Lauf-Tourist. Sein vermeintlich größter Widersacher um WM-Gold, Wilson Kipsang ergänzte: „Als wir Kilometer 30 erreichten, konnte ich keinen Schritt mehr weiterlaufen. Die einzige Option für mich war auszusteigen. Ich konnte nicht mehr atmen, ich habe innerlich gebrannt.“ Zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben beendete Kipsang einen Marathon nicht, zum zweiten Mal verpasste er erst das Podest. Es muss angeführt werden, dass die ersten 30 Kilometer keineswegs im mörderischen Jagdtempo gelaufen wurden, sondern in einem derartig humanen, dass ein Läufer aus Lesotho zu diesem Zeitpunkt die Initiative ergriff und attackierte.

Fehler in der Vorbereitung?
Rigoros abgeschottet ließ der kenianische Verband seine Stars die WM-Vorbereitung in Tambach im nördlichen Bereich des Rift Valley absolvieren. Ihnen war es verboten, in den zwei Monaten vor Beginn der Titelkämpfe das Land zu verlassen. Ein verhängnisvoller Fehler? In Tambach herrschen im europäischen Sommer Temperaturen knapp unter der 20°C-Marke. „Auch in Tambach kann es heiß sein, aber es herrscht keine sengende Hitze. Hitze stellt immer ein Problem für mich dar, auch in London bei Olympia hatte ich Schwierigkeiten. Aber die Verhältnisse von damals waren nicht zu vergleichen mit heute“, kommentierte Kipsang die rasch aufkommenden Generalvermutungen. Im Vorfeld des WM-Marathon hatte er prognostiziert, dass die drei Kenianer das Feld zersötren würden. Ein gewaltiger Irrtum: „Das gehört zum Sport dazu. Unsere Vorbereitung war perfekt, wir waren in sehr guter Verfassung. Natürlich verlaufen Meisterschaftsrennen anders, aber man kann nicht sagen, dass wir derartige Rennen nicht beherrschen. Auch andere Läufer hatten Probleme mit der Hitze heute und viele andere Eliteläufer, die nicht hier waren, hätten bestimmt auch Probleme gehabt.“ Bei all den Erklärungen stechen zwei Fakten ins Auge: Der erste ist das blanke Ergebnis, welches eine sportliche Katastrophe darstellt, der zweite, dass mit Abel Kirui 2011 in Daegu und Luke Kibet 2007 in Osaka zwei Kenianer bei extremen Bedingungen Weltmeister wurden. „Vielleicht haben sich unsere Kollegen aus Eritrea und Äthiopien in der Hitze vorbereitet. Ihre Körper haben besser auf die Bedingungen reagiert und darauf kommt es im Endeffekt an. Sie kamen besser zurecht und haben gewonnen, mein Körper blockierte komplett“, räumte Kipsang abschließend ein.

Falsche Selektion?
Wer die schnellsten Marathonläufer der Welt zu einer Weltmeisterschaft schicken kann, kann eigentlich nichts falsch machen. Doch der ehemalige Sieger des Boston Marathon und kenianische Medienvertreter in Peking, Timothy Cherigat wirft dem kenianischen Verband genau diese Fehleinschätzung vor: „Sie haben Leute, die 2:03 Stunden laufen, ausgewählt und haben die Bedingungen in China nicht mit ein kalkuliert.“ Sein Landsmann Collins Tanui, ebenfalls ein Straßenläufer, pflichtet Cherigat bei: „Ich hätte Läufer hingeschickt, die in Dubai oder bei chinesischen Marathons gelaufen sind. Nicht jene, die im kühlen und klimatisch nicht vergleichbaren Europa die großen Erfolge hatten.“ Der 38-Jährige Cherigat, der nie an Weltmeisterschaften teilnahm, sparte auch nicht mit Kritik an den Stars selbst: „Man darf nie vergessen, dass ein Meisterschaftsrennen zu laufen ganz anders ist als einen großen Stadtmarathon. Es ist ein großer Unterschied, ob man für das Geld läuft oder für die Ehre und den nationalen Stolz. Am Ende klafft ein großer Unterschied: Athletics Kenya hat die klimatischen Bedingungen im Vorfeld nicht beachtet und schaut jetzt durch die Röhre und ein junger Läufer kam hierher, war bestens vorbereitet und lechzte danach, seine Nation mit Stolz zu erfüllen.“
Text: SIP / TK
Foto: Getty Images for IAAF